Eigene Welt und östlichster Punkt
So., 19.08.2018
Skerbersdorf – Pechern – Werdeck – Podrosche – Klein Priebus – Steinbach – Lodenau – Rothenburg/Oberlausiz – „Nieder-Neundorf“ – Zentendorf
Kilometer: 39,6 km
Als mein Wecker um 6 Uhr klingelt, habe ich keine Lust, aufzustehen. Es ist kühl und feucht, und die kurze Nacht macht sich auch bemerkbar. Um 7 Uhr beschließe ich jedoch, mal langsam aktiv zu werden. Dank der Dusche vor Ort bin ich auch kurz darauf wach. Nachdem ich meine Sachen gepackt und noch das letzte Brot gegessen habe, geht es über den Sportplatz hinweg zum Radweg. Es war eine tolle Zeit hier im Freizeitzentrum Skerbersdorf! Das spontane Bleiben hat sich gelohnt!
Auf dem Neiße-Radweg geht es durch kurze Kiefernwälder und viele Sonnenblumenfelder durch das schöne Tal. Um diese Uhrzeit ist hier noch nichts los! Immer wieder sind nun auch kleine Steigungen zu erklimmen. Es wird wohl einer der letzten Tage mit langen flachen Etappen für längere Zeit sein. In den nächsten Monaten wird es wieder deutlich mehr auf und ab gehen.
Nachdem ich Klein Priebus durchquert habe, entdecke ich an einem Tisch Beutel mit Zwetschgen für 50 Cent. Da kann ich nicht widerstehen und kaufe mir einen. Leider sind die meisten noch nicht reif. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass sie gut nachreifen. Nachdem es auf dem Radweg weiter in Richtung Süden geht, entdecke ich plötzlich die „Rast-ohne-Hast Deluxe“ Bank, wie ich sie hier einmal nennen und hiermit etwas genauer vorstellen möchte:
Als ich in Steinbach aus dem Wald komme, beobachte ich zu meiner linken Seite unterhalb des Weges drei Autos. Aus dem einen steigen gerade zwei kräftig gebaute Männer. Sie sehen wie Polizisten aus, aber es sind anscheinend keine. Auf ihren T-Shirts steht zwar hinten etwas aufgedruckt, ich kann es jedoch nicht erkennen. Zu zweit laufen sie in selbstbewusster Haltung auf ein anderes Auto zu. Der eine links an der Fahrerseite, der andere rechts auf der Beifahrerseite. Beide beugen sie sich zum Fahrer in dem Auto hinab. Vor einem dritten Auto steht eine Person mit einem ziemlich lädierten Auge. Entweder ist er vor kurzem schlimm gestürzt, oder er war in eine Schlägerei verwickelt. Auf jeden Fall scheint er mit zu der Truppe zu gehören. Als ich mich gerade auf der Höhe der drei befinde, schauen mich die beiden Männer am Auto an. Dass ich während meiner Reise immer wieder für Aufsehen mit meinem Wagen sorge, bin ich mittlerweile gewohnt. Doch in diesem Moment macht sich plötzlich das Gefühl breit, ich werde aus einem ganz anderen Grund angestarrt. Ich habe das unangenehme Gefühl in der Bauchgegend, gerade irgendwas gesehen zu haben, was ich nicht hätte sehen sollen! Und das missfällt den beiden. Ich weiß nicht, warum mir in diesem Moment dieser Gedanke in den Kopf schießt, aber ich spüre, dass ich hier nur noch weglaufen möchte. Irgendetwas ist hier seltsam! Durch den kleinen Ort führt mich der Weg hoch zur Landstraße nach Rothenburg. Hier beginnt auch wieder ein Radweg abseits der Straße. Als ich diesen gerade erreiche, kommt ein Auto hinter mir um die Kurve. Es sind die beiden kräftigen Männer, die zuvor noch um das Auto gestanden haben. Sie bremsen, fahren langsam an mir vorbei und mustern mich ganz genau. Ich spüre, wie sich mir alle Nackenhaare aufstellen! Vielleicht sind die beiden total harmlos und einfach nur genauso interessiert wie all die anderen Menschen zuvor auch. Aber irgendwas an den beiden versetzt mich in Alarmstimmung! Hinter den beiden kommt ein weiteres Auto gefahren. Es ist der Typ mit dem lädierten Auge. Doch er ist nicht allein, er hat noch einen Beifahrer neben sich. Während die zwei kräftigen Männer auf die Landstraße Richtung Rothenburg abbiegen, fährt mich der zweite Wagen fast um. Er fährt neben dem Radweg in die Wiese und die beiden Männer darin springen aus dem Wagen. Mein Herz beginnt laut zu pochen. Was passiert hier nur? Mit einem Abstand von vielleicht 10 m beginnen sie, mir auf dem Radweg zu folgen. Der Radweg verlässt nun auch zunehmend den Sichtbereich der Straße und geht den Berg hinab in ein Stückchen Wald. Ich spüre, wie ich unbewusst immer schneller werde, im Schlepptau die beiden Männer. Im Geiste sehe ich schon die zwei kräftigen Männer aus dem ersten Auto mir auf dem Radweg entgegen kommen, mich einkesseln. Vielleicht war ich wirklich zur falschen Zeit am falschen Ort? Vielleicht schwimme ich demnächst zerstückelt in einem Müllsack die Neiße hinab? Ich sehe schon die Schlagzeilen in den Zeitungen vor mir! Vielleicht wird mir gleich von hinten ein Sack über den Kopf gezogen? Schluss! Aus! Diese Gedankenspirale muss unterbrochen werden! Das kann auch alles ein blöder Zufall sein! Ich wage es, mich umzudrehen. Die beiden Männer sind verschwunden. Auch auf den nächsten Kilometern fühle ich mich noch unwohl. Doch nach und nach verblassen die schlechten Gedanken. Als ich schließlich Lodenau erreiche, bin ich wieder voll im Hier und Jetzt.
Es ist ja schon irgendwie verhext! Kaum bin ich wieder zu Fuß unterwegs, steigt doch die Temperatur wieder über 30 Grad. Gestern war es so angenehm. Warum kann das nicht einfach mal so bleiben? Verlief bisher der Weg mehrheitlich im Wald und damit im Schatten, stehen nun jedoch bis Rothenburg mehrere Kilometer entlang einer Landstraße und des Flugplatzes von Rothenburg/ Görlitz in praller Sonne an. Zu der Hitze kommt auch immer mehr der Hunger. Durch meinen längeren Aufenthalt in Skerbersdorf sind meine Vorräte aufgebraucht und heute sind alle Läden geschlossen. Ich beschließe daher, in einem Restaurant eine Pizza zu bestellen. Das Restaurant wurde gerade erst geöffnet, und der Pizzaofen wird erst noch erhitzt. Ich verbringe die Wartezeit im Lokal und fülle noch schnell die Flaschen wieder auf. Als die Pizza fertig ist, nehme ich diese jedoch mit und esse sie wenig später etwas abseits des Ortszentrums. Lecker, was tut das gut!
Erst im Nachhinein fällt mir ein, dass Pizza ja immer so einen wahnsinnigen Durst auslöst. Ob das so eine gute Idee war? Ich habe eigentlich nun wieder sehr viel Wasser bei mir, aber wer weiß, wie lange ich damit auskommen muss! Ich fülle daher wenig später an einem Campingplatz die mittlerweile wieder leere 1,5-Liter-Flasche nach. Weiter geht es auf dem Radweg in Richtung Süden. An einem schönen Platz an der Neiße überlege ich, ob ich hier bleiben soll. Doch auf der Neiße ist noch sehr viel los. Schlauchboote können hier gemietet werden, und man wird später samt Boot von einem Auto flussabwärts wieder eingesammelt. Ich ziehe daher weiter. Steil geht es kurz den Weg zur Straße hinauf, danach links an dieser weiter.
Plötzlich tauchen links und rechts seltsame Figuren und Häuser in den Bäumen auf. Ich habe eine ganz eigene, und doch interessante, magische Welt erreicht: Die Kulturinsel Einsiedel. Ein Freizeitpark und Hotel der anderen Art. Leider bin ich zu spät dran, um ihn mir anzusehen. Aber hier muss ich unbedingt noch einmal hin.
Entlang der Straße führt mein Weg über eine Eisenbahnlinie hinweg nach Zentendorf. Eine Familie sitzt draußen auf der Terrasse und isst. Ich grüße, und sie grüßen zurück; ihre beiden Hunde unter ihren Füßen rennen an den Zaun und bellen los. An sich ist das hier nichts Ungewöhnliches! Doch was sich dann in den darauf folgenden Sekunden abspielt, habe ich unterwegs auch noch nicht erlebt: Denn aus dem Garten hinter dem Haus kommen plötzlich bestimmt 20 bis 30 Hunde aller Größen in den Vorgarten gerannt, und es beginnt ein Hundegebell der ganz besonderen Art. Ich muss schallend anfangen zu lachen, weil der Anblick der Familie zwischen diesen bellenden Hunden derart ulkig aussieht, dass ich gar nicht anders kann. Doch auch die Familie kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Noch einen halben Kilometer späer ist zu vernehmen, dass sich der eine oder andere Hund noch nicht beruhigen konnte.
In Zentendorf biege ich sogleich nach links ab, um nach rechts hinaus auf die Felder zu laufen. Ein schöner Wiesenweg führt mich an Gänsen vorbei ins Neiße-Vorland. Am Horizont ist mittlerweile schon mein Ziel zu sehen: Der östlichste Punkt Deutschlands. Ich bin fassungslos, dass ich nur durch Zufall diesen Hinweis auf meiner Karte entdeckt habe! Ich wäre sonst glatt am nächsten Tag daran vorbei gelaufen, und das bei einer Deutschlandreise! Was für ein Fauxpas!
Der östlichste Punkt Deutschlands liegt, wie soll es auch anders sein, in unmittelbarer Nähe zur Neiße. Eine mächtige Eiche und ein Stein mit der Aufschrift „Östlichster Punkt Deutschlands“ markieren diesen Punkt. Wobei es bis zum Neiße-Ufer noch einige Meter auf deutschem Boden sind. Außerdem befindet sich hier ein Schutzraum und ein Buch zum Eintragen. Einem Zeitungsartikel im Kasten kann man entnehmen, dass dieses Buch bereits schon sieben Mal dem Vandalismus zum Opfer gefallen ist. Es gibt einfach zu viele Idioten! Auch ich trage mich in das Buch ein und schreibe kurz darauf an einer Bank sitzend den Bericht.
In meinem Rücken geht langsam die Sonne unter. Wie ich feststellen muss, wird es immer früher. Bald werde ich keine langen Etappen mehr laufen können, weil ich spätestens 17 Uhr einen Schlafplatz aufsuchen muss.