Schlaraffenland und Tag der Begegnungen
Do., 28.6.2018
Hakeborn – Hausneindorf – Wedderstedt – Ditfurt – Quedlinburg – Weddersleben – Thale
Kilometer: 37,3 km
Um kurz nach 3 Uhr werde ich von dem Landwirt neben dem Sportplatz wach. Er scheint mit seinen Tieren zu reden. Zumindest hört es sich für mich so an. Um kurz nach 4 Uhr wird dann auch der Motor des Traktors gestartet. Landleben eben! Meinen Wecker um 4.30 Uhr ignoriere ich und versuche, noch etwas zu dösen. Um kurz nach 5 Uhr packe ich jedoch langsam zusammen. Meine Motivation ist heute irgendwie im Eimer.
Ich stelle nach einem Blick auf die Karten fest, dass es auf längere Zeit durch keinen Ort mehr geht. Der klägliche Rest Trinkwasser in der 1-Liter-Flasche wird bei dem warmen Wetter nicht reichen und die 1,5-Liter-Flasche wird zu 100% leer. Ich beschließe daher, mal wieder den Friedhof zu besuchen. Um die Uhrzeit wird da sicherlich keiner sein. Ich stelle meinen Wagen neben dem Tor in den Grünstreifen und mache mich auf die Suche nach Wasser. Neben einer kleinen Kapelle werde ich fündig, aber im Vergleich zu den Vortagen bin ich zum ersten Mal skeptisch, ob das Wasser hier aus dem öffentlichen Leitungswassernetz stammt oder aus einem Brunnen bzw. einer Zisterne. Am Wasserhahn hängt ein Schlauch, der in einen großen runden Steintrog endet. Das Wasser ist dort leicht grünlich. Ich ziehe den Schlauch aus dem Wasser und öffne den Hahn. Klares Wasser kommt mir entgegen geschossen. Ich spüle wenige Sekunden und fülle dann meine Flasche. Vom Geruch her unauffällig. Von der Farbe her auch. Zur Not werde ich es eben filtern oder abkochen.
Als ich gerade den Friedhof verlasse, kommen mir zwei Frauen entgegen, und es wird freundlich gegrüßt. Weiter oben im Ort steigen die ersten Arbeiter in ihre Autos. Auch hier wird freundlich gegrüßt. Scheinbar habe ich gestern einfach nur die falschen Leute getroffen.
Am Ortsende von Hakeborn steigt die Asphaltstraße mächtig an. Ich merke, dass es auf den Harz zu geht. Hatte ich in den vergangenen Tagen den Wagen stellenweise gar nicht mehr gespürt, sodass ich mich manchmal durch einen Blick zurück vergewissern musste, ob dieser überhaupt noch dran hängt, so bekomme ich nun deutlich das Gewicht zu spüren.
Doch oben angekommen, werde ich bei einer schönen Morgenbeleuchtung von einem alten Turm begrüßt. Von dort ab geht es kerzengerade auf knapp 2 km wieder den Berg hinab zum Wald.
Auch auf die Gefahr hin, mit meinen Kirschen langsam aber sicher zu langweilen, aber was sich auf den folgenden 2 km abspielte, möchte ich Euch ungern vorenthalten. Denn auf der kompletten Strecke stehen Kirschbäume Spalier. Und das bestückt in allen Farben! Gelbe, gelb-rote, hellrote, dunkelrote oder fast schwarze Kirschen, alles ist vertreten. Und das in einer Fülle, was alles, was ich bisher auf der Tour erlebt habe, in den Schatten stellt. Die ersten 500 m steuere ich noch jeden einzelnen Baum an, doch gehe ich danach über, auf den darauf folgenden 500 m gar nicht mehr anzuhalten. Ich greife im Vorbeigehen einfach ins Blattwerk und kann mir sicher sein, Beute gemacht zu haben. Meine Hände sehen zwar recht schnell aus, als hätte ich ein halbes Schwein geschlachtet, aber das ist mir egal. Ich bin im Schlaraffenland gelandet, und nur das zählt. Ich habe Kilometer 1 dieser Kirschparade erreicht, da bemerke ich entsetzt, ich bin kirschsüchtig! Mir fällt es schwer, einfach an einem Baum vorbei zu gehen, ohne hinein zu greifen. Hunger habe ich eigentlich schon längst nicht mehr, aber da hängen sie so lecker, so prall…
Ich beginne einen inneren Kampf mit mir und schaffe es schließlich auch, die letzten 500 m all die edlen Früchte zu ignorieren.
Mittlerweile habe ich den Wald erreicht, und es beginnt wieder eine kleine Steigung, die jedoch recht schnell stagniert. Auf kleinen Forststraßen geht es durch den Wald. Plötzlich habe ich eine ausgewachsene, lange Steigung vor mir. Ich verinnerliche mir, dass ich hier mit Fahrrad und Gepäck auch ordentlich was zu tun hätte, und so fühlen sich die halbe Stunde Quälerei auch nicht mehr so schlimm an. Oben angekommen, geht es weiter leicht absteigend durch den Wald.
Plötzlich entdecke ich auf meiner rechten Seite lauter Netze, die den Waldboden bedecken. Große Flächen grüne Netze. Nanu, ist hier der Survivalverein auf Trainingslager, oder was hat das zu bedeuten? Ich vermute stark, dass hier irgendwelche Samen geerntet werden sollen. Aber welche und warum? Kurz darauf wird mir die Lösung mit einer Hinweistafel präsentiert. Die Kirschkerne der Vogelkirsche werden hier gesammelt. Laut der Tafel ist dies der Baum der Zukunft für deutsche Wälder. Interessant, das war mir bisher auch noch nicht bekannt!
Auf einem nun schmaleren Weg geht es aus dem Wald. Dort hat mich ein Schotterweg wieder. Über eine Kuppe geht es auf unebenen Wegen hinab nach Hausneindorf. Den Ort durchquere ich kurz und ein Schotter-, später Asphaltweg führt mich entlang einer Bahnlinie Richtung Wedderstedt.
Die Landschaft hat sich nun deutlich verändert. Wer glaubt, hin zu hügelig, der irrt. Platt wie eine Flunder ist es hier. Pappeln und Mais säumen nun den Weg. Mein erster Gedanke geht ins Donautal bei Ulm. Da kommt man von der Alb auch urplötzlich in eine flache Ebene.
Hinter Wedderstedt geht es über Wiesenwege vorbei an einem Baggersee. Gestern die Halde, heute also Baggersee. Ich bleibe eine Weile neben dem Förderband stehen und beobachte, wie die einzelnen Bestandteile in hohen Türmen voneinander getrennt werden.
Auf einem breiten Schotterweg geht es nun nach Ditfurt, wo ich die Bode wieder überquere. Ich befinde mich gerade auf dem Weg zum Ditfurter See, da werde ich von zwei Kindern und einer Frau auf dem Fahrrad überholt. Wo kommst du denn her, will die Frau wissen. Ich frage, ob sie den Startpunkt der Etappe oder der Reise wissen möchte. Der Reise. Hankensbüttel ist ihr sogar ein Begriff. Sie erzählt mir, dass sie hier in der Gegend mal einen Australier aufgegabelt hat, der auch mit einem Karren unterwegs war. Nur, dass dieser Karren deutlich größer war. Er war auf Reise durch Europa mit Didgeridoo und hat immer wieder in Orten gespielt. Wäre ein lustiger Typ gewesen, auch wenn sie sich mit ihm nicht verständigen konnte. Sie gibt mir noch Tipps, wo ich am See übernachten kann. Wenn ich hier bleiben würde, sollte ich am besten um 18 Uhr zum Volleyballturnier kommen, da würde ich bestimmt viele Leute kennen lernen. Sie würde mich danach auch ins Restaurant zum Essen einladen. Ich bin baff über diese Gastfreundschaft und bedanke mich. Vielleicht sieht man sich ja heute Abend, ruft sie mir zu und fährt mit den Kindern weiter.
Ich bin hin und her gerissen. Ich habe am nächsten Tag einen festen Übernachtungsplatz ausgehandelt und auch schon zugesagt. Wenn ich den erreichen und damit auch zuverlässig sein möchte, muss ich heute noch weiter. Es ist erst 12 Uhr und die Strecke von hier werde ich zu Fuß morgen nicht schaffen. Ich laufe einen schmalen Pfad entlang des schönen Sees. Wenn ich hier bleibe, habe ich genau das, was ich mir durch die Reise erhoffe: ins Gespräch mit mir fremden Menschen zu kommen, neue Kontakte knüpfen und damit neue potenzielle Übernachtungsplätze in Deutschland finden. Ich grüble und entscheide dann, weiter zu gehen. Eigentlich sind es gerade diese spontanen Veränderungen, die eine Reise so wertvoll machen, aber ich möchte die Zusage am folgenden Tag nicht gefährden. Also auch an dieser Stelle nochmal vielen herzlichen Dank für die Einladung. Ohne den „Termin“ hätte ich sie angenommen.
Über einen kerzengeraden Feldweg geht es unter der B6 hindurch an blühenden Mohnfeldern vorbei nach Quedlinburg.
Bis jetzt hatte ich das abgefüllte Wasser aus Hakeborn noch nicht angerührt. Die andere Flasche war schon länger leer. Ich erhoffe mir, hier an sicheres Wasser zu kommen. Im Kaufland werde ich sicherlich fündig, und die haben auch immer saubere Toiletten. Ich stelle meinen Wagen vor der Herrentoilette ab und fülle die beiden Flaschen. Außerdem nutze ich das feuchte Nass, um mir Gesicht und Arme zu waschen. Als ich gerade dabei bin, mir die Hände abzutrocknen, kommt ein Mitarbeiter von Kaufland zur Türe herein. Ob das vor der Tür mein Karren ist, will er wissen. Ja entgegne ich ihm und schildere kurz, was ich mache und was ich vorhabe. Er ist sehr interessiert und meint scherzhaft, ob ich dann bald bei ARD, ZDF oder RTL zu sehen bin. Ich lache und meine, wer weiß, wer weiß, aber nein, wohl eher nicht. Ich staune nicht schlecht, als er mir daraufhin erzählt, dass er zufällig noch Nummern zu Fernsehanstalten hat. Er hatte damit mal beruflich zu tun. Und ehe ich mich versehe, habe ich eine Handynummer vom MDR4 und eine Festnetznummer von einer Firma, die Filmmaterial an die großen Fernsehanstalten verkauft. Im weiteren Gesprächsverlauf erfahre ich noch, dass der Brocken als Wetterscheide Quedlinburg sehr begünstigt. Viele Firmen hätten sich daher hier schon recht früh angesiedelt, und man redet hier gerne darüber, dass beinahe Quedlinburg Landeshauptstadt geworden wäre.
Nachdem ich noch bei Kaufland kurz etwas eingekauft habe, mache ich mich auf den Weg durch Quedlinburgs schöne Gassen. Viele alte Häuser stehen hier und in Kombination mit dem Kopfsteinpflaster könnte man meinen, die Zeit sei stehen geblieben. Leider fehlt mir die Zeit, um alles zu sehen, daher mache ich mich auf den Weg durch einen Stadtpark Richtung Bode.
An dieser geht es einen schmalen, leicht gewundenen Pfad Richtung Weddersleben und zur Teufelsmauer. Plötzlich komme ich auf dem Weg nicht mehr weiter. Eine mächtige Pappel ist beim Sturm – ich vermute, vor einer Woche – auf den Weg gefallen. Eine Schneise durch das Getreidefeld zeigt mir den alternativen Weg.
In Weddersleben beginnt nun der Teufelsmauerstieg. Ein großes Tor weist mich darauf hin. Und dann steht er plötzlich vor mir. Der erste grüne Stempelkasten der Harzer Wandernadel. Ich hatte extra das Stempelheft mit eingepackt, und so packe ich es mit voller Vorfreude aus. Doch als ich den Kasten öffne, sehe ich… nichts! Ein Stempelkissen und das war es. Kein Stempel. Na, toll! Ich fotografiere die entsprechende Nummer ab, um den Stempel später anerkannt zu bekommen, und mache mich wieder auf den Weg. Den Weg über die Teufelsmauer lasse ich rechts an mir liegen, denn auf eine lange Treppenreihe habe ich heute keine Lust mehr. Die Füße wollen langsam Ruhe haben.
Ein Mann kommt mir entgegen, der von zwei Huskys an der Schleppleine voran gezogen wird. Ich lache und meine zu ihm, dass ich so etwas jetzt auch gut gebrauchen könnte. Die Huskys fordern derweil ihre Streicheleinheiten von mir ein. Das ist aber auch eine super Idee mit dem Wagen, entgegnet mir der Mann. Erspart einem sicherlich einiges an Plackerei. Ja, und wie!
Keine 500 m weiter ist ein älterer Mann mit seiner Mischlingshundedame planschen in der Bode. Also zumindest sie ist mit Freude im Wasser, er trocknet sie nur mit einem Handtuch immer wieder ab. Ist da ein Zelt drin, möchte er von mir wissen. Ja, unter anderem. Aber auch noch jede Menge anderer Krempel, erwidere ich. Ganz schön praktisch, so ein Wagen, findet er und möchte wissen, woher ich komme. Ich erzähle ihm, was ich mache, wo ich her komme und was ich noch vor mir habe. Er ist beeindruckt. Komm, wir gehen ein Stück mit, ruft er seiner Hundedame zu, und wir machen uns gemeinsam langsam schlendernd auf den Weg Richtung Thale. Früher war hier alles ordentlich, aber die Stadt hat kein Geld mehr, meint er. Überall wird nur noch gespart, und von den hohen Steuereinnahmen kommt bei uns nichts an. Es entwickelt sich auf den folgenden Kilometern ein intensives Gespräch über regionale bis hin zu internationaler Politik und Gesellschaft. Es fehlt der Respekt vor der Natur, meint Eike, dessen Name ich mittlerweile erfahren habe. Die Jugendlichen fangen schon in der Schule an, ihren Müll einfach auf den Boden zu werfen, und das setzt sich hier draußen fort. In Schweden, so meint er, wäre das noch anders. Da hätte die Jugend noch mehr Anstand. Aber hier wäre immer mehr zu beobachten, wie alles den Bach runter geht. Seine Erwartungshaltung mit der Maueröffnung wäre nicht erfüllt worden. Im Gegenteil: Blühende Landschaften wurden uns versprochen, stattdessen haben wir nun krautige. Damit treffe ich binnen einer Woche den nächsten Mitbürger, der der Meinung ist, die DDR hat den Bürgern mehrheitlich gut getan. Es wurde früher mehr für uns Bürger getan. Heute gehen durch Eingemeindungen immer mehr Stimmrechte verloren, beklagt er. Eine Mehrheit viele, viele Kilometer weiter bestimmt irgendwas, ohne die Probleme hier vor Ort zu kennen, erzählt er. Thale, das weniger Mitglieder hat, wird daher immer wieder übergangen. Mich erinnert das stark an die Problematik in meiner Heimat. Dort wurden in gleichmäßiger Regelmäßigkeit Entscheidungen zu Ungunsten des Murrtales und zu Gunsten des Remstals durchgewunken, aufgrund unausgewogener Kräfteverhältnisse.
Kurz vor Thale verabschieden wir uns. Ich ziehe weiter zum Campingplatz. Eike geht den Weg wieder zurück, den wir gekommen sind.
Kurz vor Thale und kurz vor dem Klostercampingplatz, den ich mir für die Nacht ausgesucht habe, geht es plötzlich von der Bode weg, steil den Berg hoch. So etwas musste nun natürlich wieder sein! Dazu noch ein ziemlich miserabler Weg. Und das Ganze nur, um kurz darauf den ganzen Berg wieder an anderer Stelle hinab zu laufen. Naja, Vorgeschmack für die nächsten Tage.
Um 18 Uhr treffe ich bei dem sehr schönen Campingplatz ein und bin froh, endlich duschen zu können. Und Strom habe ich auch wieder. Dieses Mal jedoch gratis über sogenannte Stromschließfächer. Tolle und innovative Idee!