Sonnenaufgang und Verzweiflung
Do., 5.07.2018
Schierke – Brocken – Torfhaus – Ahrendsberg – Diabas Steinbruch
Kilometer: 31,5 km
Es ist etwas kälter geworden, und ich bin dankbar, meine dünne Windstopperjacke greifbar zu haben. Es geht mittlerweile auf halb ein Uhr zu. Ich überlege, wann es wohl am sinnvollsten ist, aufzubrechen. Ich habe keine Erfahrungswerte für die Brockenstraße. Klar wird nur sein, dass ich mit Wagen deutlich mehr Zeit einplanen muss. Ich beschließe daher, gegen 2 Uhr aufzubrechen. Irgendwo in der Ferne streiten sich zwei Füchse. Ihr Bellen ist weit zu vernehmen. Der Fuchs vom späten Abend hat sich derweil nicht mehr blicken lassen. Ich versuche etwas zu dösen, was mir jedoch nur bedingt gelingt. Um 1.45 Uhr beschließe ich, aufzubrechen. Lieber zu früh oben ankommen, als zu spät. Leise geht es durch den schlafenden Ort. Am Ortsausgang zeigt mir ein Schild an, dass es 10 km bis zum Brocken über die Brockenstraße sind.
Vorbei geht es an der hell erleuchteten Bildungsstätte. Noch brauche ich meine Taschenlampe nicht. Doch nach Passieren des Nationalpark-Informationshauses wird es schnell dunkel. Ich stelle die Helligkeit meiner Stirnlampe auf die geringste Stufe ein. Das reicht mir, um den Weg zu sehen und die gröbsten Umrisse wahrzunehmen. Auf dem ersten Teilabschnitt komme ich gut voran. Die Steigung ist dezent, die immer wieder erscheinenden Baken reflektieren das Licht grell. Ich habe dadurch das Gefühl, mich von Lichtquelle zu Lichtquelle zu hangeln. Mittlerweile ist es mir in der Jacke deutlich zu warm geworden. Selbst das Jäckchen darunter ist im Prinzip noch zu viel. Ich öffne es und laufe damit fast im T-Shirt weiter. An einem stärkeren Gebirgsbach spürt man förmlich die Kaltluft den Hang hinab ins Tal fließen. Es gibt hier einen kalten Wind. Doch kaum verlässt man das Tal wieder, wird es wieder deutlich wärmer. Im weiteren Verlauf kommt es zu regelrechten Verwirbelungen warmer und kalter Luftschichten. Es ist faszinierend, wie man an der eigenen Haut ein Wechselbad der Temperaturen fühlt.
Die Steigungen haben mittlerweile nach Überquerung der Brockenbahnlinie deutlich zugenommen. Der Wagen ist deutlich hinter mir zu spüren. Plötzlich leuchten mich aus dem Gebüsch neben mir vier Augenpaare hell an und verfolgen mich mit jedem Schritt. Wahrscheinlich Rehe. Was mir bis jetzt an dem Wald auffällt, ist die Stille. So etwas habe ich zuvor in noch keinem Wald erlebt und finde es schon etwas seltsam. Normalerweise hört man in den Wäldern Füchse bellen, Rehe schreien, Käuzchen rufen. Aber hier ist nur Stille. Nicht mal das Brechen von Geäst ist zu hören.
Peu à peu schraube ich mich in die Höhe. Einen weiteren Stempelabdruck kann ich dabei auch noch mitnehmen. Ich merke, dass meine Berechnung wohl aufgeht, und ich kurz vor Sonnenaufgang oben ankommen werde.
Es ist mittlerweile schon so hell, dass ich meine Stirnlampe gar nicht mehr benötige. Plötzlich meine ich, Stimmen hinter mir zu hören. Aber ich kann nichts entdecken. Naja, gerade bei absoluter Stille können Töne über weitaus größere Distanzen wahrgenommen werden als sonst üblich. Wer weiß, woher die kamen.
Und schließlich liegt er vor mir. Der Brockengipfel mit seiner vollen Bebauung. Zu meine Verwunderung stelle ich fest, dass es Richtung Nordosten stark bewölkt ist. Hoffentlich gefährdet die Bewölkung nicht den Aufgang.
Mittlerweile sind auch die Stimmen hinter mir zuzuordnen. Ein paar Jugendliche kommen den Berg hoch. Wie ich mitbekomme, war es wohl bei ihnen eine spontane Idee, zum Sonnenaufgang hoch zu laufen.
Zu meiner Verwunderung kommen nun weitere junge Leute, zum Teil mit lauter Musik den Berg hoch gelaufen. Ist das der neue Trend unter Jugendlichen? An sich ist es ja eine schöne Sache, wenn man sich für so etwas begeistern kann und auch einen langen Fußmarsch in Kauf nimmt. Aber die laute Musik dazu müsste nicht sein! Das stört so mitten in der Natur!
Ich richte meine Gopro (das ist ein kleiner Video-Camrecorder) für Zeitrafferaufnahmen, sowie meine Olympus für Bilder auf dem Stativ aus und warte, was passieren wird. Doch erst mal passiert gar nichts. Die Sonne geht als rote Kugel am Horizont auf und verschwindet auch wieder sogleich in einer tiefhängenden Wolkensuppe. Oder ist das alles Rauch von Feld- und Waldbränden? So genau kann ich es gar nicht sagen. Aber möglich wäre es.
Ich überlege schon, alles wieder zusammenzupacken, aber ich warte erfahrungsgemäß lieber noch etwas ab. Und das ist die richtige Entscheidung! Denn wenig später schiebt sich die Sonne durch ein Loch in der Wolkendecke, und der ganze Horizont vor mir beginnt rot zu leuchten. Doch das ist nicht alles. Sowohl nach unten als nach oben, bilden sich Sonnenstrahlen, die die ganze Umgebung in ein wunderbares Licht tauchen. Sind die Strahlen nach unten eher rot bis orange gefärbt, so sind sie nach oben eher weiß gehalten.
Minutenlang beobachte ich die sich ständig neu verändernden Farbkombinationen und baue schließlich mein Equipment wieder ab. Na, das hat sich ja letztendlich dann doch noch gelohnt!
Die Jugendlichen machen sich wieder auf den Weg, den Berg hinab. Ich bleibe jedoch noch eine Weile hier oben und besuche den Gipfelplatz im schönen Morgenlicht. Ich habe noch vor, die Ankunft der ersten Brockenbahn abzuwarten. Das dauert jedoch noch ein paar Stunden.
Mittlerweile ist hier oben ganz schön was los. Erste Gäste verlassen das Brockenhotel, immer wieder kommen Autos die Brockenstraße hochgefahren. Überall ist man nun mit Vorbereitungen für die ersten Gäste beschäftigt. Entlang der Häuser schwirren tausende Blattschneiderwespen und fliegen oft im Schwarm um einen herum.
Ich begebe mich zu einer Bank am Berggarten und genieße hier das warme Sonnenlicht. Zwischendurch war es doch mal ganz schön frisch geworden. Plötzlich kommt ein Mann aus dem Berggarten gestiegen. Ich war ihm zuvor schon mal beim Turm vom DWD (Deutscher Wetterdienst) begegnet und bin daher davon ausgegangen, dass es sich um einen Mitarbeiter vom DWD handelt. Er fragt mich, ob ich ein Handy hätte. Er hätte so etwas nicht, aber er müsste dringend seine Frau erreichen. Ich gebe ihm meines, aber es kann keine Verbindung aufgebaut werden. Er setzt sich zu mir auf die Bank und fragt mich, was ich so mache. Ich erzähle es ihm, und er findet das toll. Mal aus dem Alltagstrott herauskommen, meint er. Das ist gut. Von Ingo erfahre ich nun, dass er nicht, wie ich dachte, beim DWD arbeitet. Er ist Forstwirt, arbeitet in den Wintermonaten wie seine Kollegen mit der Motorsäge im Wald, aber in den Sommermonaten pflegt und hegt er hier oben den Brockengarten. Eine tolle Arbeit ist das! Von ihm erfahre ich auch, dass all die umgestürzten Bäume entlang der Brockenstraße kein Sturm war, sondern es nur so aussehen soll, als sei da ein Sturm aktiv gewesen war. In Wirklichkeit wurden die Bäume von Rumänen mit Seilwinden samt Wurzelteller entwurzelt. Dies dient dazu, um die Sicherheit entlang der Brockenstraße aufrechtzuerhalten.
Wir kommen auf die Trockenheit und die Waldbrandgefahr zu sprechen, dass man derzeit von hier oben immer wieder Waldbrände zu sehen bekommt. Auch die Gefahr durch die alten Dampflokomotiven, vor allem auf der Selketalbahn, wären nicht von der Hand zu weisen. Er geht wieder in seinen Brockengarten, und ich laufe zurück Richtung Brockenbahnhof. Es ist mittlerweile wieder so warm geworden, dass ich lieber im Schatten der Gebäude den ersten Zug abwarte. Dieser trifft dann auch eine Stunde später pünktlich auf die Minute ein. Die Menschenmassen ergießen sich nun auf dem Gipfel und für mich ist die Zeit gekommen zu gehen.
Beim Abstieg ist nun tatsächlich Richtung Blankenburg eine hohe Rauchsäule am Horizont zu sehen. Da scheint wohl wieder ein Feld oder ein Waldstück zu brennen.
Ich laufe ein Stück die Brockenstraße zurück bis zur Bahnlinie. An dieser biege ich nach rechts ab auf einen Schotterweg. Mittlerweile komme ich mir vor wie auf einer Autobahn. Im Minutentakt kommen mir nun Wanderer aller Altersstufen entgegen. Auf dem Goetheweg geht es Richtung Torfhaus. Der Weg ist ziemlich grob von der Beschaffenheit, und ich bin froh, diesen kurz vor Torfhaus wieder zu verlassen.
Mit dem Verlassen habe ich mit einem Schlag auch wieder den Wald für mich allein. Hier ist so gut wie niemand unterwegs. Ich überquere die B4 nördlich von Torfhaus, und auf einer steilen, asphaltierten Forststraße geht es hinab zur Okertalsperre.
Unterwegs kommt mir ein Auto der Landesforsten Niedersachsen entgegen und erinnert mich damit daran, dass ich wieder Niedersachsen erreicht habe. Nach 500 m überholt mich das Auto bereits wieder und fährt davon. Unten am Stausee angekommen, geht es für mich jedoch laut Karte wieder hoch zum Waldjugendheim Ahrendsberg. Dort erhoffe ich mir für die Nacht einen Stellplatz für das Zelt. Kurz vor der Abzweigung kommt erneut das Auto der Landesforsten hinter mir her. Ich mache Platz und muss lachen. Die zwei jungen Männer im Auto auch. Sie grüßen und fahren den Berg hinauf nach Ahrendsberg.
Ich biege ebenfalls ab und stehe vor dem steilsten Aufstieg, den ich bisher auf der ganzen Tour vor mir hatte. Mir ist es ein Rätsel, wie hier überhaupt Autos hoch kommen. Wer legt denn solche Wege an? Ich schnalle den Wagen ab und schiebe ihn wie einen Kinderwagen Tippelschritt für Tippelschritt den Berg hinauf. Ich dachte eigentlich, mit dem Brocken hätte ich für heute mein Limit erreicht, aber das hier vor mir ist dagegen der Mount Everest.
Auf halber Strecke kommt mir, Ihr könnt es euch schon denken, erneut das Auto der Landesforsten entgegen. Ich gehe auf die Seite, und sowohl die Männer im Wagen als auch ich können sich nun das Lachen endgültig nicht mehr verkneifen. Sie winken mir zu und brausen vorbei. Ich hingegen mache mich weiter auf den schweißtreibenden Aufstieg. 200 Höhenmeter auf wenige hundert Meter. Oben angekommen, ist meine Laune mittlerweile auf einem neuen Tiefpunkt angekommen, und ich stehe kurz darauf vor dem Waldjugendheim. Ich ziehe mich erst einmal um und wasche mich grob mit kalten Wasser. So verschwitzt möchte ich da nicht auftauchen. Ich betrete den Innenhof und wurde scheinbar auch schon bemerkt. Ein Mann steht in der Tür und fragt mich, ob er mir helfen kann. Ich frage, ob es möglich wäre, hier irgendwo für eine Nacht das Zelt aufzuschlagen. Ich hätte eigentlich vor gehabt nach Goslar zu gehen, aber das würde ich heute nicht mehr schaffen.
Er meint jedoch, das wäre ganz schlecht. Sie seien mit einer Jugendgruppe hier und hätten das Haus auch nur angemietet, er könne mir jetzt schlecht einfach so die Erlaubnis geben, hier ein Zelt auf dem Grundstück aufzubauen. Ich solle es mal etwas weiter oben im Wald versuchen. Er meint, da wäre eine Lichtung. Ich bedanke mich und ziehe weiter. Auch wenn ich den Mann verstehen kann, ich bin frustriert. Ich spüre mittlerweile deutlich, dass ich in der letzten Nacht nicht geschlafen habe und im Prinzip seit dem Vortag auf den Beinen bin.
Zum zweiten Mal auf meiner Tour würde ich am liebsten abbrechen. Überhaupt werde ich skeptisch, ob das alles überhaupt realistisch ist, was ich hier mache. Katharina, mit der ich hin und her schreibe, will mir helfen, aber das ist hier mitten im Wald nicht so einfach möglich. Das Okertal mit der Bundesstraße liegt weit unter mir im Tal und wird für mich mit Wagen auch so schnell nicht mehr zu erreichen sein, und der Wald links und rechts ist steil und wüst, da kann man kein Zelt aufbauen. Entlang des Diabas-Steinbruchs geht es immer weiter den Berg hinauf. Irgendwann muss ich diesen beschissenen Gipfel doch mal erreicht haben. Die Laune und meine Kräfte sinken immer weiter. Und schließlich habe ich eine Art Hochebene erreicht. Und dann steht sie vor mir! Meine Rettung! Eine wunderschöne, große Schutzhütte! Mit Blick auf den Brocken. Sauber und gepflegt. Ich muss überhaupt nicht überlegen, ich weiß sofort: hier bleibe ich heute Nacht. Ich mache keinen Schritt mehr heute.
Ich gebe Katharina Bescheid und baue mein Innenzelt in der Hütte auf. Das reicht für die Nacht. Vor der Hütte koche ich mir im Trangia-Sturmkocher noch Nudeln mit Soße und genieße das Abendlicht. Die schlechte Laune verzieht sich langsam. Ich telefoniere noch einmal mit Katharina und gehe dann hundemüde ins Bett.