Es geht in die Luft und zweite Nachtwanderung
Mo., 17.09.2018
Wasserkuppe – Rodholz – Poppenhausen – Storchshof – Hauenthal – Röderhaid – Weyhers – Lütter
Kilometer: 17,6 km
Als ich am Morgen wach werde, steht Daniel bereits draußen. Es wird bestimmt eiskalt sein, denke ich mir und gehe ins Bad. Irgendwie bin ich heute Morgen nicht richtig fit. Ist es die Nervosität wegen des eventuell stattfindenden Fluges? Oder habe ich den Burger nicht so richtig vertragen? Mir ist etwas schlecht. Es kann natürlich auch das Wasser in meiner Flasche sein. Auf dem Sofa liegend rufe ich die aktuellen Wetterdaten bei Kachelmann ab. Fulda 4°C. Wasserkuppe 13°C. Was??? Damit habe ich nicht gerechnet! Haben wir eine Inversionswetterlage? Ich trete vor die Tür zu Daniel und habe das Gefühl, im Frühling angekommen zu sein. Herrlich! Daniel kann als rothaariger mit der Sonne nicht so viel anfangen. Er läuft daher an seiner Arbeitsstelle – er ist Gärtner wie ich – immer eingepackt herum. Auf dem Kopf trägt er einen großen Cowboyhut, erzählt er mir.
Als er duschen geht, trifft auch Claudia mit frischen Brötchen ein. Wir beschließen, bei dem herrlichen Wetter draußen zu essen und richten alles an. Claudia hat ihr Hobby zum Beruf gemacht und arbeitet einige 100 m von hier entfernt in der Gleitschirmflugschule im technischen Bereich. Sie ist dort für die Rettungsfallschirme zuständig. Für ein gemeinsames Frühstück hat sie jedoch noch Zeit. Die große Frage wird heute sein, ob wir Westwind bekommen werden. Davon hängt es nämlich ab, ob Daniel mit seiner Prognose Recht behält, und außerdem, ob ich heute zu einem Tandemsprung kommen werde. Die meisten Modelle haben für heute Südwind angekündigt. Daniel hat sich aber den anderen Vereinsmitgliedern gegenüber mit Westwind positioniert. Seine App, die er nutzt, habe sich noch nie geirrt, meint er.
Als Daniel und ich kurz darauf mit seinen zwei Bumerangs zum Westhang hinunterlaufen, weht ein leichter Westwind den Berg hinauf. Das muss noch nichts heißen, erklärt mir Daniel. Entscheidend ist der Windsack oben am Gipfel. Hier am Hang kann das die beginnende Thermik sein.
Zu zweit versuchen wir, Daniels Bumerangs zu werfen. Sie sind auch für ihn neu und entsprechend muss er erst mal das Flugverhalten der beiden kennen lernen. Während sich bei ihm der Bumerang allmählich immer mehr seiner Position nähert, fliegt er bei mir meistens nur davon. Schließlich schafft er es auch, die beiden zu fangen. Das kann böse Verletzungen geben, erklärt er mir. Und das bekommen wir kurz darauf auch zu sehen, als einer an seine Schutzbrille knallt. Die Abschürfungen sind im Glas deutlich zu erkennen. Gut, dass er eine Brille trug!
Daniel zeigt mir noch das Fliegerdenkmal: Ein zusammengemörtelter Berg Basalt mit einem Adler auf der Spitze.
Der Westwind wird immer kräftiger. Offenbar liegt Daniel mit seiner Prognose sehr richtig! Auch die ersten Gleitschirmflieger haben das erkannt und treffen am Westhang ein. Die Wasserkuppe ist einer der wenigen Berge, der in alle vier Himmelsrichtungen Startmöglichkeiten bietet, erklärt mir Daniel. Daniel zeigt hoch an den Himmel auf zwei Rotmilane. Jetzt sei es eine gute Zeit zum Starten. Die Vögel zeigen sehr deutlich, wo nun Thermik zum Aufsteigen vorhanden ist, erklärt er mir. Doch die beiden Gleitschirmflieger warten weiter ab. Schließlich wagt der erste einen Versuch. Die Vögel sind jedoch mittlerweile weg. Und das sieht man auch am Flug. Es geht kaum bergauf, sondern zügig hinab ins Tal.
Wir laufen zurück zur Wasserkuppe, und ich beginne, meinen Wagen zu packen. Ich möchte auf jeden Fall heute noch weiter, auch wenn es Abend werden sollte. Gegen 11 Uhr trifft schließlich Bernd ein. Er würde noch einmal kurz wegfahren, dann könne es für mich los gehen, sagt er zu mir. Oh mein Gott, ich werde also tatsächlich fliegen??? Ich suche in meinem Rucksack nach der Gopro und werde doch etwas nervös. Loslassen, Kontrolle abgeben, all das ist überhaupt nicht meine Art! Aber genau das werde ich machen müssen, sobald ich mit den Füßen den Kontakt zum Boden verloren habe.
Doch als Bernd zurück ist, steht für mich fest, ich werde das nun machen. Nachdem mir Bernd das Geschirr angelegt hat, geht es hinunter zum Westhang. Hier erklärt mir Bernd, was ich machen muss. Laufen, laufen und noch einmal laufen. Das sollte ja eigentlich kein Problem sein! Das mache ich ja schon seit drei Monaten! Doch in der Praxis bei der Übung am Boden stelle ich fest, so einfach wird es doch nicht werden. Ich bekomme Bernd hinter mir kaum vom Fleck gezogen. Ich falle fast hin beim Versuch, voranzukommen. Doch genau das sollte nicht passieren.
Dennoch scheint Bernd zufrieden, denn er fängt an, den Schirm an sein Geschirr einzuhaken. Kurz darauf hänge ich auch schon an seinem Geschirr. Jeder Karabiner hält zwei Tonnen, erklärt mir Bernd. Und wir haben mehrere davon an uns. So, wie du heil unten ankommen möchtest, möchte ich es auch, ergänzt er. Daniel überreiche ich mein Handy, und dann geht es los. Am Hang stehend, laufen wir los. Doch der Wind dreht und wir werden nach rechts in Richtung Zuschauer getrieben. Zum Glück halten wir rechtzeitig an. Doch sofort zieht es uns zurück nach links. So fühlen sich also Turbulenzen am Boden an, denke ich mir. Doch Bernd hat alles im Griff. Es folgt ein neuer Versuch: Wir rennen los, werden immer schneller. Plötzlich spüre ich keinen Boden mehr unter meinen Füßen. Dann plötzlich doch wieder. Immer weiter rennen wir den Hang hinab. Erneut verliere ich den Kontakt zum Boden, um ihn wenig später wieder zu spüren. Der Hang wird zunehmend steiler. Dann ist wieder nichts mehr an meinen Füßen zu spüren, und plötzlich wird es nicht nur spürbar, sondern auch sichtbar: Wir haben abgehoben! Und sofort stellt sich ein irrsinniges Gefühl ein: Das Gefühl eines Dahingleitens wie eine leichte Feder. Immer tiefer liegen die Fichten unter uns. Ab und zu spürt man, wie wir nach oben gehoben werden. Das eine Mal ist es die Thermik, das zweite Mal ist es Bernd, der mir durch das Hochdrücken seines Oberschenkels meinen Sitz erst so richtig entfaltet. Wir gleiten über die Täler und Hänge der Wasserkuppe dahin, mit einem großartigen Ausblick in Richtung Westen. Plötzlich überreicht mir Bernd die Lenkung. An zwei Schnüren mit Griffen steuert man den Schirm. Zieht man links, dreht er sich nach links ein, zieht man rechts, dreht er sich nach rechts ein. Macht man nichts, fliegt man gerade aus. Zieht man beide, scheint man abzubremsen. Nach und nach verlieren wir an Höhe. Die Thermik scheint noch nicht ausreichend vorhanden zu sein. Bernd meint jedoch, das macht nichts, wir machen später noch einmal einen Flug. Ich denke erst, ich habe mich verhört und frage nach. Ja, das wäre kein Problem, wir könnten später noch einmal fliegen, bestätigt Bernd. Ich kann es kaum glauben! Doch erst einmal müssen wir heil landen. Über eine Baumreihe hinweg, geht es auf eine Wiese zu. Bernd ruft mir zu, dass ich mich aufstellen soll, sobald wir Bodenkontakt haben, soll ich laufen. Kurz darauf habe ich wieder Boden unter den Füßen und beginne zu laufen. „Halt Stopp, stehen bleiben“, ruft Bernd. Ich bleibe stehen, und der Schirm kommt seitlich von uns herunter. Ich bin Tandem geflogen! Ich bin über mich selbst überrascht und umarme Bernd. Er fordert mich auf, meinen Helm abzunehmen und meiner Kamera zu sagen, was ich fühle und wie es mir gerade geht.
Tandemflug von der Wasserkuppe
Auf der Wiese warten wir zusammen mit einigen anderen Gleitschirmfliegern auf Daniel, der mit einem Kleinbus kurz darauf eintrifft und uns einsammelt. Bernd fährt wieder hoch und Daniel und ich steigen bei Claudias Arbeitsstelle aus und statten ihr einen Besuch ab. An einem großen Tisch zeigt sie mir, wie die Rettungsfallschirme gepackt werden. Ein sehr verantwortungsvoller Job!
Wir beschließen, uns in einer halben Stunde zum Essen zu treffen, und verlassen sie wieder. Mit Daniel laufe ich an einer Sommerrodelbahn vorbei zur Abtsrodaer Kuppe. Die Basaltkuppe ist nach Norden ausgerichtet, und rechts von ihr befindet sich ein recht steiler Abhang. Hier wird nach Norden heraus gestartet, wenn der Wind aus der entsprechenden Richtung kommt.
Wir laufen zurück und stellen dabei fest, dass eine halbe Stunde längst vorbei ist. Ich rufe Claudia an und erfahre von ihr, dass sie bereits essen war und nun am Vereinsheim mit ihrem Sohn auf uns warten würde. Als wir kurz darauf bei ihr eintreffen, setzen wir uns zu den beiden. Daniel holt noch die restlichen Brötchen vom Frühstück aus dem Vereinsheim, und wir machen uns ein paar belegte Brote. Anschließend tragen wir die Bestandteile vom Drachen, den Daniel gleich fliegen wird, den Westhang hinunter. Der Drachen selbst ist sehr schwer. Oberhalb des Westhanges treffe ich auch wieder auf Bernd, der mich sogleich fragt, ob ich Lust hätte auf einen zweiten Flug. Ich war schon den halben Mittag hin und her gerissen! Das Angebot ist einmalig, aber ich merke, dass ich erst einmal die Eindrücke des ersten Fluges verarbeiten muss. Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören. Ich lehne daher ab. Aber es wird sicherlich nicht mein letzter Flug gewesen sein!
Auch Claudia beschließt, angesichts der mittlerweile idealen Bedingungen zu fliegen und hat ihren Schirm aus dem Auto geholt. Zusammen mit ihrem Sohn bauen Daniel und ich den Drachen auf. Bis man hier abhebt, muss man deutlich mehr Zeit in den Aufbau investieren, als die Gleitschirmflieger, die einfach den Schirm ausbreiten und abheben.
Mittlerweile hat Claudia abgehoben. Sie ist bereits auf dem Weg nach unten zurück ins Tal. Die gute Thermik und der Westwind haben nachgelassen. Teilweise springt der Wind auf Süd. Daniel beschließt dennoch, zu starten. Wir verabschieden uns, tauschen unsere Telefonnummern aus, und dann rennt Daniel los. Immer schneller werdend geht es den Westhang hinab. Als ich schon denke, er hebt nicht mehr ab, fliegt er doch davon. Ich schaue ihm noch nach, bis er hinter einem Hang verschwunden ist, dann laufe ich mit Claudias Sohn hinauf zum Radom.
Eigentlich müsste Claudia mittlerweile wieder oben angekommen sein. Ist sie aber nicht. Und was jetzt? Ich kann den Kleinen ja nicht einfach hier sitzen lassen und gehen! Außerdem möchte ich mich auch von Claudia noch verabschieden. Aber mit Loslaufen wird es langsam knapp. Es ist bereits nach 17 Uhr, und ich habe noch einige Stunden Fußmarsch vor mir und dazu einen Abstieg auf 350 m Höhe. Ich stelle mich schon auf eine weitere Übernachtung auf der Wasserkuppe ein, da trifft der Kleinbus mit den Gleitschirmfliegern ein, und Claudia ist dabei. Auch von ihr verabschiede ich mich. Ich habe es den beiden vor Ort schon gesagt, aber ich mache es auch hier noch einmal. Vielen, vielen Dank für dieses großartige Geschenk!!! Es hat mich sehr gefreut euch kennen gelernt zu haben, mit euch eine so tolle Zeit verbracht zu haben! Ist seid wirklich super!
Über den geschotterten Weg mache ich mich mit dem Wagen wieder auf die Beine, vorbei an der Stelle, an der mich Daniel angesprochen hatte. Wenn er das nicht gemacht hätte, hätte ich all das nicht erlebt.
Am Westhang vorbei laufe ich auf großen Wiesen nach Süden, vorbei am Pferdskopf, der südlichen Abflugrichtung.
Auf einem geschotterten Weg geht es zum Teil in Kehren den Berg hinab, bis ich schließlich am Guckaisee vorbeikomme. Oberhalb von diesem laufe ich nach Westen. Einer kleinen Asphaltstraße folge ich über kleine Höfe bis hinunter nach Poppenhausen. Hier treffe ich auf einen Radweg, dem ich den Berg hinauf zu einem kleinen Bauernhof folge. Ein schwarzer Hund kommt hier bellend auf mich zu. Kein Hundebesitzer weit und breit! Ich habe keine Angst vor Hunden, aber vorsichtig werde ich bei solchen Situationen schon. Doch der Hund bleibt friedlich, begleitet mich sogar einen Kilometer, bis er schließlich umdreht. Mittlerweile hat ein unglaublicher Sonnenuntergang eingesetzt. Ich komme kaum noch voran, weil ich immer wieder stehen bleiben und Bilder machen muss.
Ob Claudia und Daniel ihn gerade vom Gipfel genießen können? Immer intensiver werden die Farben! Ich telefoniere mittlerweile mit Katharina und erzähle ihr vom Tag. Nach und nach wird es immer dunkler. Doch noch komme ich ohne Stirnlampe voran. Doch die Orientierung fällt mir zunehmend schwerer. An sich ist die Richtung klar, aber ich möchte nach Möglichkeit abseits der großen Straßen auf dem ausgeschilderten Radweg bleiben. Dieser führt mich jedoch immer wieder über kleine Höfe und stellenweise ist im Halbdunkel nicht mehr so recht zu erkennen, wo es weiter geht. Kurz vor Wehyers muss ich dann doch anhalten und meine Stirnlampe herausholen, außerdem meine Powerbank, um weiterhin mit Katharina telefonieren zu können. So erreiche ich schließlich gegen 21 Uhr in völliger Dunkelheit meine Tante und meinen Onkel.